"Die Bewohner des Westbalkans müssen sich inzwischen vorkommen wie in der Warteschleife eines Callcenters, in der eine sanfte Stimme wieder und wieder beteuert, dass man sich nur noch ein bisschen gedulden müsse: Schon der nächste EU-Platz ist für Sie frei."

Diese Zeilen waren neulich im Spiegel zu lesen und bezogen sich auf die Abschlusserklärung des sogenannten Westbalkan-Gipfels der EU, welcher kürzlich in der bulgarischen Hauptstadt Sofia stattfand. Unter dem Begriff "Westbalkan" hat man - gemäß der Definition der EU - jene südosteuropäischen Staaten zu verstehen, die aus dem Zerfallsprozess der Bundesrepublik Jugoslawien hervorgegangen sind, zwischen 1991 und 2008, welche noch nicht Mitglied der EU sind, plus der Republik Albanien.

Also Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien (die bosnische-kroatische Förderation, ebenso wie die Republik Srbska) und Kosovo. Slowenien ist schon seit der großen EU-Osterweiterung von 2004 Vollmitglied, Kroatien seit 2013.

Die Gespenster des Balkan

Betrachtet man die Region aus der Perspektive einer Momentaufnahme, so stellt man fest, dass die Gespenster des Balkan, also die historische Belastung der Region, bis zum heutigen Tage erkennbar ist. Beispielsweise in der Tatsache, dass die Grenzen der ehemaligen Imperien, das Habsburger Reich, das Osmanische Reich, sowie indirekt das zaristische Russland, dort bis heute erkennbar sind und sich unter den neuen Vorzeichen manifestieren.

Aktuell stellt die die EU-Außengrenze dort (die Grenze zwischen Kroatien und Bosnien, bzw. zwischen Kroatien und Serbien und zu Montenegro) nicht nur zufällig die Grenze zwischen der Welt des Katholizismus und der Orthodoxie bzw. zur Islamischen Welt dar.

Die ahistorische Betrachtungsweise, welche sich innerhalb der EU in den relevanten Bereichen durchzusetzen droht, entwickelt sich zu einem Sicherheitsrisiko.

Während Brüssel den Balkan lange Zeit bestenfalls als Hinterhof der EU zu betrachten pflegte, als verlängerte Billiglohn-Werkbank oder als Reservoir für billige Arbeitskräfte, befindet sich die Region seit Jahren im Fadenkreuz der Mächte. Es findet ein Wettkampf um geopolitische Einflussnahme statt, an denen Ankara, Moskau, Peking und Riad beteiligt sind.

Während man in den Kernstaaten der EU die heranwachsende akademische Jugend mit Gender-studies verwirrt, werden jene postmodernen politikwissenschaftlichen Theorien, wonach Demographie, Geographie und Religion angeblich keine Rolle mehr in Europa spielen, auf dem Balkan eindrucksvoll widerlegt. Die ahistorische Betrachtungsweise, welche sich innerhalb der EU in den relevanten Bereichen durchzusetzen droht, entwickelt sich zu einem Sicherheitsrisiko.

Machtfaktor Türkei

Die Türkei ist sicherlich einer der Machtfaktoren in der Region und ist bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts die eigentliche Balkanmacht gewesen. Die jetzige türkische Regierung, die, um es vorsichtig auszudrücken, unter sehr starkem Einfluss alter Kalifatsträume steht, agiert in Bosnien und dem Kosovo, vereinzelt auch in Mazedonien und Serbien, in der Tradition des Osmanischen Reichs.

Positiv daran ist, dass diese Einflussnahme sich immerhin auf historischen Pfaden vollzieht sowie der einzige wirksame Riegel ist, den Missionierungs-Tendenzen wahhabitischer und noch schlimmer salafistischer Fanatiker, finanziert und ausgebildet vom engen Verbündeten der USA und des Westens, nämlich Saudi-Arabien, entgegenzuwirken.

Saudi-Arabien zündelt im Hinterhof der EU

Die wahhabitsche Penetration ist besonders in Bosnien zu einem Problem geworden und sollte in Brüssel für größte Unruhe sorgen, vor allem deshalb, weil zahlreiche Kämpfer aus dem Balkan in Syrien sich dem IS angeschlossen hatten und nun in ihre Heimat zurückkehren. Angesichts der noch nicht verheilten Wunden der muslimischen Gemeinden in Bosnien, aufgrund der Massaker des jüngsten Krieges, aber auch aufgrund der ökonomischen Dauermisere, treffen die saudische Fanatiker, flankiert von ihrer finanziellen Potenz, dort auf fruchtbaren Boden.

Vom einstigen liberalen Islam ist in Sarajewo heute weit weniger zu spüren, als zu Zeiten Titos oder auch Alija Izetbegovićs.

Die Beziehungen der Türkei mit ihren früheren engsten Verbündeten auf dem Balkan stützen sich auf alte osmanischen osmanischen Bindungen die einer Langzeitwirkung unterliegen.

Ich selbst konnte mich vor 7 Jahren davon überzeugen, als ich beim Bummel durch Prizren, mit Sicherheit die schönste Stadt des Kosovo, erstaunt feststellte, dass die alt eingesessenen Bewohner sich mit dem "Merhaba" grüßten und nicht mit dem albanischen Gruß Mirdita.

In einer Reportage für die Neue Zürcher Zeitung schrieb ich damals «Merhaba» – auf Türkisch begrüsst Gushlo ein befreundetes Ehepaar, welches das Café betritt. «Wir unterhalten uns immer in unserer Muttersprache, dem sogenannten Prizren-Osmanisch», erklären die Freunde. «In unserer Jugend sprach ein Grossteil der Stadtbewohner Prizren-Osmanisch. Albanisch war die Sprache der Bewohner in den umliegenden Dörfern!», fügt Gushlo hinzu. «Natürlich bin ich Kosovare, aber türkischer Ethnizität», gibt er augenzwinkernd zu verstehen. https://www.nzz.ch/muezzin-ruf_und_techno-beat-1.13994619

Chinas Einfluss wächst und wächst

Neben dem türkischen und saudischen Einfluss, konkurriert die EU, zwischen Bihac und dem Ohridsee auch mit der Volksrepublik China und mit Russland.

China erlangt Einfluss in diesen Staaten, wie andernorts in der Welt auch, durch mit Investitionen in Großprojekte, flankiert von großzügigen Krediten, im Rahmen des Infrastruktur-Projektes der  "Neuen Seidenstraße", umrahmt von nagelneuer Infrastruktur (Häfen, Flughäfen, Autobahnen, Hochgeschwindigkeitstrassen für die Eisenbahn).

Darüber hinaus bietet Peking den Staaten des Westbalkans einen eigenen politischen Zusammenschluss: Seit 2012 versammelt sie 16 dieser Staaten, also in Südosteuropa über den Westbalkan hinaus, "zum Ausbau und zur Intensivierung der Kooperation" im "16-plus-eins-Format", weshalb man in Brüssel schon eine Spaltung der EU kommen sieht.

Ganz neu ist das Engagement der Volksrepublik ist diesem Winkel Europas nicht, denn schon in den 1970er Jahren standen Truppen der Volksbefreiungsarmee an der albanischen Küste der Adria, gegenüber der NATO-Staaten Italien und Griechenland. Damals als Verbündete, in Ermangelung von anderen Verbündeten, des nationalkommunistischen Fanatikers Enver Hodscha, der eine jugoslawische Invasion Zeit seines Lebens weit mehr fürchtete, als eine Konfrontation mit dem Warschauer Pakt oder der NATO.

Moskau stützt sich, spätestens seit den Tagen des jugoslawischen Zerfallsprozesses in den 1990er Jahren, auf die panslawischen Traditionen in den südslawischen Staaten der Region, vor allem in Serbien aber auch in Mazedonien, wo Russland als historische Schutzmacht gilt.

Die Arroganz der EU

In Brüssel, lange Zeit von einem EU-Ausdehnungswahn geprägt, bzw. von dem arroganten Bewusstsein, dass nur eine Zukunft in der EU überhaupt eine Zukunft garantiert und die Staaten gefälligst zu warten hätten, bis man ihnen großzügig Eintritt gewährt, wenn überhaupt, ist inzwischen hektischer Aktionismus ausgebrochen, wie die Konferenz von Sofia bewies.

Es ist ja auch richtig, der Balkan ist Teil unseres Kontinents, eine faszinierende Region, Bestandteil unseres geographischen Schicksals, weshalb wir als Europäer dort erträgliche Verhältnisse zu schaffen haben.

Aber, die Ausstrahlungskraft der EU hat auch auf dem Westbalkan an Glanz verloren, seit die Staatengemeinschaft in eine Zerreißprobe geraten ist. Auch ist eine EU-Südosterweiterung in dieser Zeit alles andere als populär in den Mitgliedsstaaten.

Die Brüsseler Bürokraten stehen daher unter Druck und begreifen endlich,dass die Interessen Washingtons auch hier nicht unbedingt im Interesse Europas sind.

Ein bosnischer Kommentator schrieb kürzlich in einem sozialen Netzwerk bezüglich des Verhältnisses der EU zum Westbalkan: "Okay, sie wollen den Westbalkan nicht, das ist legitim. Aber warum sind sie dann empört und schreien gegen den Einfluss Russlands, der Türkei und auch Chinas?"

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